1930 - 1939
1950 - 1959
1960 - 1969
1970 - 1979
1980 - 1989
1990 - 1999
"Ich mach' auch montags auf."
Ein Abschied von der Gaststätte Paul’s - von Luca Bognanni
Wie jeden Samstag bohren sich die nervös hibbelnden Stöckelschuhe der Schalke-Frau mit der Zärtlichkeit einer Thorsten Legat Grätsche in die ächzenden Holzdielen. Während der wild umher schwappende Haselnussschnaps mit einer Hand Richtung Mund balanciert wird, kommentiert sie die Abseitsentscheidung auf dem Fernsehbildschirm mit einem Vokabular, das selbst einer unbeaufsichtigten Gesamtschulklasse auf Abschlussfahrt die Schamesröte ins Gesicht steigen ließe.
Die Schalke-Frau gehört im Paul’s zum Inventar. Sie trägt kurze graue Haare, grellen roten Lippenstift und den immer gleichen blauweißen Nordkurven-Schal. Schalke-Frau nenne ich sie deshalb, weil meine Angst davor bei ungeschickter Fragestellung oder schlechtem Timing
unverhofft einen Stiefeletto zwischen die Beine gerammt zu bekommen, ein beidseitiges Bekanntmachen immer verhindert hat. Dabei strahlt die stimmgewaltigste Tresen-Cholerikerin der Gaststätte am Schmittweg abseits ihrer absurd-obszönen Beschimpfungsorgien etwas Grundsympathisches aus, das sich wohl am ehesten noch mit rustikaler Herzlichkeit betiteln lässt.
Verhaltensauffällige wie die Schalke-Frau gibt es im Paul’s zu dieser Zeit nicht wenige. Da ist der Alk-Opa, der wie ein lahmer Flipperball zwischen Kolpinghaus und Paul’s hin und her flirrt, sich Woche für Woche das Kölsch anschreiben lässt und ab und zu mit Tanzeinlagen zwischen Theke und Polstergarnitur für eine unterhaltsame Halbzeitshow sorgt. Da ist der Kerl mit dem Schnauzer, der immer am Ecktisch sitzt, alleine würfelt und so lange trinkt bis er irgendwann vom Stuhl fällt - und vor allem ist da der Wirt: Paul. Paul heißt eigentlich Rolf, hat aber den Kneipen-Namen des Vorbesitzers aus marketingtechnischen Gründen beibehalten. Das hat zur Folge, dass ihn die
Hälfte der Gäste Paul und die andere Hälfte Rolf nennt. Nur Idioten sagen Rolf-Paul.
Paul (also Rolf) ist der menschliche Mörtel in diesem bunten Neurotiker-Mosaik. Optisch wäre er mit seinen langen braun-grauen Haaren, dem wuchtigen Oberlippenbart und dem stets in die Hose gesteckten Karohemd auch als verwegener Bordellbesitzer, Kassenwart der Kegelfreunde
Castrop-Rauxel oder 80er Jahre Bundesliga-Mannschaftsarzt durchgegangen. Imposanter als das Aussehen ist allerdings die Stimme des Wirts, die in ihrer Amy Winehouse’haftigkeit vor durchzechten Nächten und gelebtem Leben nur so strotzt und die sich in etwa so anhört als
hätten es regelmäßiger Alkoholkonsum und jahrzehntelange Nikotinsucht auf einer runtergerockten Kiez-Toilette getrieben.
Das Paul’s ist ein Ort im Spannungsfeld zwischen grobem Exzess und heilsamer Gruppentherapie. Ein Sammelsurium aus gescheiterten Existenzen, abgebrochenen Suchtberatungen und Wolle-Petry-Youtube-Playlisten. Ein Auffangbecken für Außenseiter. Die
biographischen Einschnitte haben sich in viele der furchigen Gesichter gemeißelt, die im Schatten des gedimmten Kneipenlichts an ihrem Kölsch-Glas nippen. Schichtarbeiter und Arbeitslose, Ex-Alkoholiker und Ex-Ex-Alkoholiker, Schalker und Borussen gehen ein und aus. Wie Charaktere einer Sitcom scheinen die samstäglichen Gestalten nur vor der Rauchschwaden-Kulisse des Paul’s zu existieren. Im Alltag bleiben sie ungesehen wie die Mails im Spamordner. Das Paul’s ist eine Parallelgesellschaft im besten Sinne, lange bevor Sarrazin und Integrationsdebatte an einem Tisch bei Plasberg besprochen werden. Der Schmerz des Alltags wird hier jedes Wochenende vom zu lauten Fernsehton der Bundesliga-Konferenz verschluckt.
Obwohl geografisch im Zentrum, ist das Paul’s doch stets in der Peripherie des kollektiven Kleinstadt-Gedächtnisses verankert. Das Ende der Kneipe im letzten Jahr ist nicht mehr als eine Randmeldung in der lokalen Tagespresse. Warum sollte es auch anders sein? Großverdiener,
Familien und Frauen unter 55 meiden die Kneipe trotz schönem Biergarten. Ein wöchentlicher Buchclub hat sich hier nie getroffen und wäre wahrscheinlich augenblicklich von einer Hasstirade der Schalke-Frau niedergebrüllt worden. Dafür gibt es einen Bingo-Abend, ein Sparfest und auf dem Herrenklo eine Art Zigarettenautomaten, aus dem man aber statt Zigaretten für 2 Euro eine portable Plastik-Vagina erwerben kann. Auf dem Stehtisch neben der Garderobe kann man sich Pistazien ziehen, die offensichtlich das letzte Mal zu D-Mark-Zeiten aktualisiert wurden. Es werden hier keine Snaps verschickt und Insta-Storys gemacht, an diesem Ort riecht es nach etwas zu altem Kartoffelsalat, Altherrenparfum und Bananenweizen. Die Vorstellung, dass sich einer der Gäste nach laktosefreier Milch erkundigt ist ebenso abwegig wie der Gedanke, dass sich eine Landes-Doktrin wie Rauchverbot hier jemals durchsetzen würde. Es ist ein Ort, der buchstäblich aus der Zeit gefallen ist. In Zeiten der Start Up-isierung der Gastro-Szene in denen flanellhemdtragende BWL-Bachelor mit Christian Lindner Mindset, austauschbare Starbucks-
Abklatsche in schmucklosen Innenstadtbeton gießen und versuchen mit Namensetiketten auf Pappbechern persönliche Pseudo-Nähe marktwirtschaftlich skalierbar zu machen, ist das Paul’s ein Kleinod der 80er Jahre Nostalgie eingefroren wie ein Sack Erbsen.
Die Schalke-Frau ist bereits gegangen. Fünf leere Pinnchen stehen noch an ihrem verlassenen Platz. Schalke hat zwei zu eins verloren. Ich sitze als einziger ganz hinten am letzten Tisch, den Kopf unter den Händen vergraben, um den Hals einen Frankfurt-Schal. Es ist der 34. Bundesliga-Spieltag. Eintracht Frankfurt ist vor einigen Minuten durch eine drei zu eins Niederlage bei Borussia Dortmund abgestiegen. Der Wirt klopft mir väterlich auf die Schulter. „Ich mach auch montags für die zweite Liga auf“.
Ein Abschied von der Gaststätte Paul’s - von Luca Bognanni
Wie jeden Samstag bohren sich die nervös hibbelnden Stöckelschuhe der Schalke-Frau mit der Zärtlichkeit einer Thorsten Legat Grätsche in die ächzenden Holzdielen. Während der wild umher schwappende Haselnussschnaps mit einer Hand Richtung Mund balanciert wird, kommentiert sie die Abseitsentscheidung auf dem Fernsehbildschirm mit einem Vokabular, das selbst einer unbeaufsichtigten Gesamtschulklasse auf Abschlussfahrt die Schamesröte ins Gesicht steigen ließe.
Die Schalke-Frau gehört im Paul’s zum Inventar. Sie trägt kurze graue Haare, grellen roten Lippenstift und den immer gleichen blauweißen Nordkurven-Schal. Schalke-Frau nenne ich sie deshalb, weil meine Angst davor bei ungeschickter Fragestellung oder schlechtem Timing
unverhofft einen Stiefeletto zwischen die Beine gerammt zu bekommen, ein beidseitiges Bekanntmachen immer verhindert hat. Dabei strahlt die stimmgewaltigste Tresen-Cholerikerin der Gaststätte am Schmittweg abseits ihrer absurd-obszönen Beschimpfungsorgien etwas Grundsympathisches aus, das sich wohl am ehesten noch mit rustikaler Herzlichkeit betiteln lässt.
Verhaltensauffällige wie die Schalke-Frau gibt es im Paul’s zu dieser Zeit nicht wenige. Da ist der Alk-Opa, der wie ein lahmer Flipperball zwischen Kolpinghaus und Paul’s hin und her flirrt, sich Woche für Woche das Kölsch anschreiben lässt und ab und zu mit Tanzeinlagen zwischen Theke und Polstergarnitur für eine unterhaltsame Halbzeitshow sorgt. Da ist der Kerl mit dem Schnauzer, der immer am Ecktisch sitzt, alleine würfelt und so lange trinkt bis er irgendwann vom Stuhl fällt - und vor allem ist da der Wirt: Paul. Paul heißt eigentlich Rolf, hat aber den Kneipen-Namen des Vorbesitzers aus marketingtechnischen Gründen beibehalten. Das hat zur Folge, dass ihn die
Hälfte der Gäste Paul und die andere Hälfte Rolf nennt. Nur Idioten sagen Rolf-Paul.
Paul (also Rolf) ist der menschliche Mörtel in diesem bunten Neurotiker-Mosaik. Optisch wäre er mit seinen langen braun-grauen Haaren, dem wuchtigen Oberlippenbart und dem stets in die Hose gesteckten Karohemd auch als verwegener Bordellbesitzer, Kassenwart der Kegelfreunde
Castrop-Rauxel oder 80er Jahre Bundesliga-Mannschaftsarzt durchgegangen. Imposanter als das Aussehen ist allerdings die Stimme des Wirts, die in ihrer Amy Winehouse’haftigkeit vor durchzechten Nächten und gelebtem Leben nur so strotzt und die sich in etwa so anhört als
hätten es regelmäßiger Alkoholkonsum und jahrzehntelange Nikotinsucht auf einer runtergerockten Kiez-Toilette getrieben.
Das Paul’s ist ein Ort im Spannungsfeld zwischen grobem Exzess und heilsamer Gruppentherapie. Ein Sammelsurium aus gescheiterten Existenzen, abgebrochenen Suchtberatungen und Wolle-Petry-Youtube-Playlisten. Ein Auffangbecken für Außenseiter. Die
biographischen Einschnitte haben sich in viele der furchigen Gesichter gemeißelt, die im Schatten des gedimmten Kneipenlichts an ihrem Kölsch-Glas nippen. Schichtarbeiter und Arbeitslose, Ex-Alkoholiker und Ex-Ex-Alkoholiker, Schalker und Borussen gehen ein und aus. Wie Charaktere einer Sitcom scheinen die samstäglichen Gestalten nur vor der Rauchschwaden-Kulisse des Paul’s zu existieren. Im Alltag bleiben sie ungesehen wie die Mails im Spamordner. Das Paul’s ist eine Parallelgesellschaft im besten Sinne, lange bevor Sarrazin und Integrationsdebatte an einem Tisch bei Plasberg besprochen werden. Der Schmerz des Alltags wird hier jedes Wochenende vom zu lauten Fernsehton der Bundesliga-Konferenz verschluckt.
Obwohl geografisch im Zentrum, ist das Paul’s doch stets in der Peripherie des kollektiven Kleinstadt-Gedächtnisses verankert. Das Ende der Kneipe im letzten Jahr ist nicht mehr als eine Randmeldung in der lokalen Tagespresse. Warum sollte es auch anders sein? Großverdiener,
Familien und Frauen unter 55 meiden die Kneipe trotz schönem Biergarten. Ein wöchentlicher Buchclub hat sich hier nie getroffen und wäre wahrscheinlich augenblicklich von einer Hasstirade der Schalke-Frau niedergebrüllt worden. Dafür gibt es einen Bingo-Abend, ein Sparfest und auf dem Herrenklo eine Art Zigarettenautomaten, aus dem man aber statt Zigaretten für 2 Euro eine portable Plastik-Vagina erwerben kann. Auf dem Stehtisch neben der Garderobe kann man sich Pistazien ziehen, die offensichtlich das letzte Mal zu D-Mark-Zeiten aktualisiert wurden. Es werden hier keine Snaps verschickt und Insta-Storys gemacht, an diesem Ort riecht es nach etwas zu altem Kartoffelsalat, Altherrenparfum und Bananenweizen. Die Vorstellung, dass sich einer der Gäste nach laktosefreier Milch erkundigt ist ebenso abwegig wie der Gedanke, dass sich eine Landes-Doktrin wie Rauchverbot hier jemals durchsetzen würde. Es ist ein Ort, der buchstäblich aus der Zeit gefallen ist. In Zeiten der Start Up-isierung der Gastro-Szene in denen flanellhemdtragende BWL-Bachelor mit Christian Lindner Mindset, austauschbare Starbucks-
Abklatsche in schmucklosen Innenstadtbeton gießen und versuchen mit Namensetiketten auf Pappbechern persönliche Pseudo-Nähe marktwirtschaftlich skalierbar zu machen, ist das Paul’s ein Kleinod der 80er Jahre Nostalgie eingefroren wie ein Sack Erbsen.
Die Schalke-Frau ist bereits gegangen. Fünf leere Pinnchen stehen noch an ihrem verlassenen Platz. Schalke hat zwei zu eins verloren. Ich sitze als einziger ganz hinten am letzten Tisch, den Kopf unter den Händen vergraben, um den Hals einen Frankfurt-Schal. Es ist der 34. Bundesliga-Spieltag. Eintracht Frankfurt ist vor einigen Minuten durch eine drei zu eins Niederlage bei Borussia Dortmund abgestiegen. Der Wirt klopft mir väterlich auf die Schulter. „Ich mach auch montags für die zweite Liga auf“.
Datum unbekannt
© 2013 Michael Witkowski
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